Ambiguitätstoleranz? Wie bitte? – Von C.Kayales

Kategorie Allgemein

März 5, 2024

Dr. Christina Kayales

Der Liedermacher Wolf Biermann schrieb 1968 das Gedicht «Ermutigung» und vertonte es später. Es hat den Refrain: «Du lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit. Die allzu hart sind brechen, die allzu spitz sind stechen und brechen ab sogleich».

Diese Dynamik stimmt, bis heute. So vieles, was uns heute schnell hart werden lässt, zuweilen nahezu unauflösbare Verhärtungen hervorbringt, woran nicht wenige Menschen zerbrechen.

Es gibt ja auch einfach so vieles, das einfach nur empörend, ungerecht, fies, manipulativ oder demütigend ist! Wie soll man sich da nicht wütend, hart, aggressiv fühlen – oder nach dem Bruch eben mutlos, verzweifelt oder abgestumpft?

Wo, wenn nicht im Gespräch in den Gefängnissen, ist genau das hautnah zu hören? Biermanns Aufforderung, sich nicht entmutigen zu lassen, bleibt weiter wichtig. Dafür folgen jetzt drei Impulse:

  1.  Leben bedeutet: Vielfalt in seiner Vieldeutigkeit wahrzunehmen
  2. Dynamiken bei erlebter Mehrdeutigkeit
  3. Irritationen können bewältigt werden

1.    Leben bedeutet: Vielfalt in seiner Vieldeutigkeit wahrzunehmen

Wir alle erleben oft, dass eine Situation oder, was jemand sagt, mehrdeutig ist und von verschiedenen Personen unterschiedlich interpretiert werden kann. Kommunikationstheorien wie das Vier-Ohren Prinzip bei Schulz von Thun haben die Mehrdeutigkeit von Aussagen in einem Konzept beschrieben.

Die christliche Theologie basiert auf der Mehrdeutigkeit der heiligen Schrift. Wenn wir die Bibel ernst nehmen, dann gibt es kein klares Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Die jüdische Tradition des Bibellesens hat den Wert der Mehrdeutigkeit schon früh erkannt. «Siebzig Gesichter hat die Tora», heißt es im Midrasch, das heißt, sie ist auf siebzig verschiedene Weisen auszulegen.

Aufgabe guter Bibelauslegung ist es, diese Vielfalt herauszuarbeiten - nicht, um sich dann diejenige Interpretation auszusuchen, die einem am besten passt - auch wenn dies verführerisch ist und zuweilen auch zu erleben ist. Die Herausforderung besteht darin, aus den vielen Auslegungen ein mehrdimensionales Bild zusammenzusetzen – und auszuhalten.

Auch die islamische Theologie war in ihrer Blütezeit geprägt von einer großen Toleranz für Vieldeutiges und Widersprüchliches. Klassische Koran-Kommentatoren bemühten sich darum, möglichst viele Bedeutungen zusammenzutragen. Die meisten sagten nicht, diese Stelle bedeutet das und das, sondern da gibt es fünf verschiedene Möglichkeiten.

Und wenn ein Gelehrter noch eine sechste Bedeutung fand, dann hieß es, zusätzlich zu den Fünfen könnte die auch noch stimmen. Wer immer schwarz-weiß Beurteilungen aufstellt, wer behauptet, es gäbe nur eine richtige Antwort, nur eine Sichtweise, nur eine Perspektive – ja, wer in dieser Stimmung ist, der hat einen sogenannten Tunnelblick, d.h. er blendet vieles aus.

2.    Dynamiken bei erlebter Mehrdeutigkeit

Mehrdeutigkeit wird oft als Irritation erlebt, besonders, wenn das Erlebte nicht den eigenen vertrauten oder anerzogenen Vorstellungen entspricht. Irritationen treten dann auf, wenn Erwartungen, Bedürfnisse oder vertraute Regeln verletzt wurden. Irritationen führen oft zu einem Tunnelblick. Darin wird vieles ausgeblendet und das, was gesehen wird, wird eindeutig zugeordnet und beurteilt.

Wir erleben in den letzten Jahren in immer größerem Tempo den Abbruch vertrauter, üblicher Traditionen und Werte und stattdessen vielerorts eine multikulturelle und multireligiöse Gesellschaft. Dies führt zwangsläufig zu unterschiedlichsten Irritationen, weil Vertrautes oder Erwartetes, ob bewusst oder aus Unkenntnis, missachtet wurde oder weil einfach Missverständnisse entstanden.

Doch über Klischees beurteilt zu werden, kann heftige Kränkungserfahrungen auslösen, und dies umso mehr, je weniger das benutzte Klischee Teil der eigenen Lebenswirklichkeit ist. Wegen des Kopftuchs als unterdrückt betitelt zu werden oder als Italiener als Macho, kann, je öfter man damit konfrontiert wird, auch, je nach Veranlagung Aggressionen bzw. Depressionen steigern.

Wir reagieren mit Klischees oder Stereotypen, weil uns Schubladen beim Sortieren helfen. Je stressiger eine Situation, je schneller ich eine Antwort benötige, desto eher greife ich auf vorgefertigte Antworten zurück.

Denn Antworten zu haben beruhigt und nimmt Ängste. Antworten zu haben hilft mir, mich nicht mehr - wie durch die Irritation verursacht - ohnmächtig zu fühlen, sondern eben wieder sortiert, und damit wieder wirkmächtig. Viele Konflikte sind darin begründet, dass über ein Klischee schnell eine Antwort gefunden wurde, d.h. es war, zumindest vorerst, eine Beruhigung zu spüren gewesen – auch wenn dies die eigentliche Situation vielleicht noch verschlimmert hat.

Irritationen erfordern von uns Ambiguitätstoleranz, also das Aushalten von Ungewissheit. Denn es ist notwendig, Leben in seiner Vielschichtigkeit, also unterschiedliche Wahrnehmungen einer Situation und dadurch entstehende Verunsicherungen auszuhalten, ohne sofort zu urteilen, ohne sofort eine eindeutige Antwort parat zu haben. Diese Flexibilität ermöglicht, dass verschiedene Optionen in den Blick kommen.

3.    Die Pendelbewegung als Haltung zur Entwicklung von Ambiguitätstoleranz

Wie schaffen wir es, Irritationen auszuhalten? Die heute vielerorts geforderte interkulturelle Kompetenz verweist nicht zufällig auf die hohe Bedeutung von Ambiguitätstoleranz. Ambiguitätstoleranz bezieht sich darauf, dass eine Person die Fähigkeit entwickelt hat, Vielfalt in der Einschätzung einer Situation wahrzunehmen und sie zu akzeptieren, ohne sie aus Verunsicherung oder aus ideologischen Gründen ausblenden zu müssen.

Stattdessen kann die Person auf diese Mehrdeutigkeit flexibel reagieren, ohne durch übermäßige Unsicherheit oder Angst blockiert zu sein. Ambiguitätstoleranz aufzubauen gelingt, indem wir in einer Art kontinuierlichem Pendel unsere Wahrnehmungen mit passenden Reflexionen stetig überprüfen und uns durch diese Distanzierung auch von den aufsteigenden Emotionen nicht fluten lassen.

Was erlebe ich, was höre ich, was spüre ich, was verstehe ich? Was hilft mir, das Wahrgenommene zu deuten?
Eine derartige Pendelbewegung zwischen empathischer Nähe zu dem, was passiert und dem bewussten Distanzieren, um auf einer Reflexionsebene das Erlebte zu analysieren, ermöglicht, sich aus dem Bann des Erlebten und den sich unwillkürlich bildenden Emotionen zu lösen, und das Erlebte und die entstandenen Gefühle aus einer anderen Perspektive neu zu betrachten.

Die Pendelbewegung ermöglicht, die eigenen Wahrnehmungen, d.h. das erste Vorverständnis, mit Reflexionsfragen zu überprüfen. Diese Fragen gehen auf die spezielle vielschichtige Situation ein und beziehen diversity-sensibel auch mögliche Diskriminierungserfahrungen als Auslöser ein.

Welche Reflexionsfragen passen, hängt von der jeweiligen Situation ab. Diese Pendelbewegung verhindert, dass wir hart werden, sie verhindert, dass wir enttäuscht, wütend alles andere ausblenden. Dieses Pendeln lässt uns weitermachen, weiter fragen, sich weiter wehren gegen all das, was uns einfache, schwarz-weiß Lösungen für unsere Welt anbieten will.

Diese Pendeln hilft auch, die vielen Situationen im Gefängnis, die emotional sehr aufwühlend sind, durch verschiedene Reflexionsfragen besser zu bewältigen und einen Tunnelblick zu vermeiden.

Dr. Christina Kayales


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